Lutherrose
V. Die Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890
Themen15
1. Neuformierung der Sozialdemokratie
2. Erneutes Ringen innerhalb der Sozialdemokratie
3. Der Revisionismus
4. Das allgemeine Wahlrecht

V. Die Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 mit seinen Auswirkungen

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1. Neuformierung der Sozialdemokratie

Fast zeitgleich mit der Entlassung Bismarcks im März 1890 wurde das Sozialistengesetz vom Reichstag nicht erneuert. Von Siegern und Verlierern wird wohl kaum gesprochen werden können, denn eine Lösung des Konfliktes zeichnete sich nicht ab, obwohl eine zunehmende Zahl von Wählern der Sozialdemokratie die Kompetenz zutraute, eine bessere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu etablieren. Bei den Wahlen zum Reichstag 1912 wurde die SPD stärkste Fraktion. Die politischen Zusammenstöße vollzogen sich nach 1890 nicht minder heftig, doch in einer freieren politischen Luft als vor 1878 und zwischen 1878 und 1890, wo Polizei, staatliche Restriktionen und Repressalien den Ton angaben.

Nach 1890 bewegten sich beide Seiten aufeinander zu, aber zu einem tragfähigen Konsens oder einem früchtetragenden Dialog ist es nicht gekommen. Zu tief waren die Gräben zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichtungen. Versuche auf beiden Seiten, diese Gräben zu überwinden, blieb ein durchschlagender Erfolg versagt.

1895 sprach Kaiser Wilhelm II., als Staatsoberhaupt mit besonderer Machtfülle ausgestattet, von den Sozialdemokraten als den „vaterlandlosen Gesellen“.

Auf dem Parteitag in Halle 1890 wurde der Parteiname von SAP in SPD geändert. Der 18. März als sozialistischer Feiertag im Andenken an den Pariser Kommuneaufstand wurde ab 1890 durch den 1. Mai als Feiertag der Arbeiterklasse abgelöst.

Die SPD entwickelte sich zu einer wirklichen Massenpartei. Zu einer Volkspartei wurde sie nicht. Sie konnte auch in dem Nationalstaat, wie er 1871 entstanden war, den Charakter einer internationalen proletarischen Klassenpartei nicht aufrecht erhalten. So wuchs die SPD, wenn auch widerwillig, in den neuen deutschen Nationalstaat hinein.

Die marxistische Grundeinstellung wurde auf dem Erfurter Parteitag 1891 durchgesetzt, aber der revisionistische Flügel, geführt von Eduard Berstein und anderen, steigerte seinen Einfluss in der Zeit danach.

Ludwig Quessel äußerte 1914 selbstkritisch: „In unserem Programm kommt charakteristischer Weise das Wort Nation überhaupt nicht vor.“

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2. Erneutes Ringen innerhalb der Sozialdemokratie

Innerhalb der Sozialdemokratie taten sich die verschiedenen Strömungen auf, die von Anbeginn die Arbeiterbewegung begleitet hatten. Die Grundsatzdiskussionen nahmen wie in der Zeit vor dem Sozialistengesetz ihren Verlauf, unter den gewandelten Bedingungen.

Auf dem Erfurter Parteitag 1891, auf dem vier Programmentwürfe vorgelegt wurden, setzte sich der Marxismus durch. An der Programmrevision hatte sich auch Engels intensiv beteiligt. Er begrüßte die Beseitigung auf Lassalle zurückgehender Einflüsse.

Das Programm war von Bernstein und Kautsky verfasst worden. Engels drückte seine Zufriedenheit mit dem Satz aus: „Wir haben die Satisfaktion, daß die Marxsche Kritik komplett durchgeschlagen hat. - Auch der letzte Rest von Lassalleanismus ist entfernt.“

Das Erfurter Programm war marxistisch. Es galt als vorbildlich auch für andere sozialistische Parteien in Europa.

Die bürgerliche Seite war enttäuscht. Adolf Wagner, Autor und Staatssozialist, sah den

„vollen Sieg der marxistischen Richtung“, und stellte Lassalle in einem nationalen Sinne dieser Tendenz und Entscheidung entgegen.

Aber auch reformistische Stimmen ließen sich vernehmen. Der vorsitzende der bayrischen Sozialdemokratie Georg von Vollmar ließ in Reden den Gedanken an den Staatssozialismus wieder aufleben.

NavNext753. Der Revisionismus

Das Entstehen des Revisionismus’ und seine richtungsweisende Tendenz wurden auf Lassalle zurückgeführt. Die Interpretation sah darin eine reformistisch- parlamentarische Entwicklung, national und staatsbejahend. 1899 erschienen erstmalig die „Sozialistischen Monatshefte“ als Publikationsorgan reformistischer und revisionistischer Strömungen in der Sozialdemokratie.

Der Revisionismus blieb in der politischen und ökonomischen Zielsetzung marxistisch. Er war nur eine Richtungsänderung. Er wandte sich gegen die deterministische dogmatische Erstarrung, in der nach seiner Auffassung der Marxismus verfallen war, in der die historische und gesellschaftliche Entwicklung sich unabänderlich gesetzmäßig und naturnotwendig vollzog. Menschliches Handeln und Eingriffe in die Geschichte hatten in diesem theoretischen System keinen Platz.

Bernstein, der zum führenden Theoretiker des Revisionismus’ wurde, stand als Marxist in einem hohen Ansehen. Er stand Engels sehr nahe, der Bernstein und Bebel zu seinem Testamentsvollstrecker eingesetzt hatte. Die Überraschung war daher groß, als Bernstein 1899 mit einem revisionistischen Werk an die Öffentlichkeit trat: „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“. Um 1896 endete die „große Depression“, die 1873 begonnen hatte. Es begann eine Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs. Unter dem Einfluss dieser Entwicklung wandte sich Bernstein gegen die marxistische Katastrophentheorie, der zufolge das kapitalistische Wirtschaftssystem zu einer immer weiter um sich greifenden sozialen Verelendung führen müsse, die dem Kapitalismus durch Verschärfung des Klassenkampfes zum Verhängnis werde. Bernstein verwarf auch den Einfluss, den die hegelsche Dialektik auf den Marxismus ausgeübt hatte. Hegel und Marx vertraten nach Bernsteins Verständnis in ihren Systemen einen Monismus, den er den Dualismus von Sein und Sollen entgegenstellte. Er forderte einen Kant für die Sozialdemokratie und einen „kritischen Sozialismus“. Die Arbeiterklasse sollte Ideale verwirklichen und nicht in Dogmen verharren.

Damit hatten Bernstein und die Revisionisten entscheidend wichtige Bausteine aus dem von Marx errichteten philosophisch-theoretischen Gebäude herausgebrochen, ohne sich aber das offene Eingeständnis dafür zu liefern.

NavNext754. Das allgemeine Wahlrecht

In seinem Buch der „Deutsche Bauernkrieg“, mit dem Friedrich Engels Parallelen zieht zu revolutionären Bewegungen seiner Zeit, trifft er die Feststellung, die deutschen Arbeiter hätten durch das allgemeine Wahlrecht die Macht erlangt, sich in der gesetzgeberischen Versammlung direkt vertreten zu lassen.

Am Beginn des Krieges zwischen Preußen und Österreich 1866 erklärte Schweitzer in einer Rede vor einer ADAV- Versammlung, in dieser gegenwärtigen politischen Entwicklung müsse die günstige Gelegenheit genutzt werden, um das allgemeine Wahlrecht zu erringen.

Das allgemeine Wahlrecht hatte zu den Hauptforderungen Lassalles gehört.

Zum allgemeinen Wahlrecht äußerte später Liebknecht, dass „es eine Grundbedingung des demokratischen, des Sozialdemokratischen Staates sei“, aber andere Freiheitsrechte sollten damit nicht verknüpft werden, und er fügte erläuternd hinzu: „im absolutistischen Staat, kann das allgemeine Wahlrecht nur Spiel- und Werkzeug des Absolutismus sein.“

Bernstein berief sich auf ein Vorwort von Engels zu dem Werk von Karl Marx: „Klassenkämpfe in Frankreich“. Mit besonderer Entschiedenheit setzte sich Engels darin für das allgemeine Wahlrecht ein. Er spendete hohes Lob für die bestehende Möglichkeit auf parlamentarischem Wege mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts, die Arbeiteremanzipation zu verwirklichen.

Dieses Wort von Engels wurde so ausgelegt, als habe er sich von der Idee abgewendet, die Macht im Staat durch revolutionäre Überrumpelung an sich zu reißen. Bernstein und andere Revisionisten sahen darin das Einverständnis, den Weg der Revision zu beschreiten. Demokratie war für Bernstein „die Form für die Verwirklichung des Sozialismus“. Demokratie war gleichbedeutend mit Aufhebung der Klassenherrschaft. Bernstein hatte in seinem Werk: „Demokratie und Sozialismus“ aus Lassalles Arbeiterprogramm den Satz übernommen: „Wer allgemeines Wahlrecht sagt, stößt einen Schrei der Versöhnung aus.“

Themen

IV. Das Sozialistengesetz und die FolgenSeiten AnfangVI. Das Ringen um die Sozialdemokratie

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