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IV. Das Sozialistengesetz und die Folgen
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2. Sozialgesetzgebung

IV. Das Sozialistengesetz und die Folgen

1. Verfolgungsmaßnahmen

Die Verfolgung von Sozialdemokraten, ihren Organisationen und Presseorganen begann nicht erst 1878 mit der Verkündigung des Sozialistengesetzes. Am 16. März 1875 plädierte der Staatsanwalt Tessendorf vor Richtern: „ Zerstören wir die sozialistische Organisation, und es existiert keine sozialistische Partei mehr.“ Er hatte Anklage erhoben gegen den Leiter des

„Allgemeinen Deutschen Arbeiter Vereins“ wegen Vergehens gegen das preußische Vereinsgesetz. Die Vorsteher und Leiter wurden verurteilt, und die Auflösung des Vereins für Preußen ausgesprochen. Im vergleichbaren Zeitraum erhoben die Rechtsorgane gegen einen Vertrauensmann der SDAP Anklage wegen desselben Vergehens. Er wurde verurteilt und die von ihm geleitete Organisation aufgelöst. Gewerkschaftsorganisationen wurden verboten, und mussten ihre Tätigkeit einstellen. In anderen Bundesländern, besonders in Sachsen und Bayern wurde ebenso verfahren. Die Sozialdemokraten waren bis zum Auftreten Tessendorfs in zwei Lager gespalten. Im Mai 1875 fand der Vereinigungskongress in Gotha statt. SDAP und ADAV schlossen sich zur SAP zusammen.

Die Gegensätze hatten sich noch während des Deutsch Französischen Krieges bis zur Unversöhnlichkeit gesteigert.

Beide sozialdemokratische Richtungen begleiteten den Pariser Kommuneaufstand, der am 18. März 1871 begonnen hatte, mit Solidaritätskundgebungen. Eine Vollversammlung des ADAV in Berlin am 26. März 1871 unter Vorsitz Schweitzers begrüßte mit überwiegender Mehrheit in einer Resolution: „mit Freuden, die in Paris und in den großen Städten Frankreichs erfolgte sociale Revolution....“ Am selben Tage richteten Anhänger der SDAP in Elberfeld- Barmen eine Solidaritätsadresse an Kommunevertreter, in der die Errichtung der „social -demokratischen Republik“ als ersten Schritt zur „Befreiung des Proletariats von der Capitalmacht“ betrachtet wurde. In vielen deutschen Städten kam es zu Massenkund-

gebungen, zeitweise mit mehreren Tausend Menschen. 1873 fiel der 18. März mit der fünfundzwanzigjährigen Wiederkehr der revolutionären Aufstandes in Berlin zusammen. In Friedrichshain in Berlin versammelten sich aus diesem Anlass 20000 Arbeiter. Liebknecht und Bebel und sozialdemokratische Presseorgane im ganzen Reich folgten mit Solidaritätsbekundungen. Der 18. März wurde im Hinblick auf den Pariser Kommuneaufstand zum Gegengedenktag der Sedanfeiern am 2. September gestaltet.

Am 21. Oktober 1878 setzte die Verfolgung, gestützt auf das an diesem Tage vom Reichstage verabschiedete Gesetz gegen die: „Gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ mit verschärften Mitteln ein.

Es begann der Weg in eine Tragödie, die den Völkern Europas nicht die Befreiung von der Kapitalmacht brachte, sondern eine Massenvernichtung in zwei Weltkriegen, verbunden mit sozialem Massenelend. Nach Verkündigung des Sozialistengesetzes nahmen die Verfolgungsmaßnahmen an Schärfe und Umfang zu. Das Sozialistengesetz wurde von 1878 bis 1890 dreimal vom Reichstag bestätigt und verlängert. Vertreter der Sozialdemokratie konnten in dem Zeitraum weiterhin das passive Wahlrecht ausüben und in den Reichstag gewählt werden. Sozialdemokratische Presseorgane mussten jedoch ihr Erscheinen einstellen oder wurden überwacht.

Es bedeutete auch soziale Not für die Mitarbeiter der Genossenschaftsdruckereinen. Die Restriktionen und die verhängten Strafen wurden von der Polizei- und nicht von einer richterlichen Gewalt vollzogen. Häufig angewandt wurde das Mittel der Ausweisung. Es machte die betroffenen Familien mittellos. Spendenaufrufe sollten in solchen Fällen die ärgste Not lindern.

Dennoch steigerten die Sozialdemokraten ihren Stimmenanteil bei Reichstagswahlen

kontinuierlich von 6,1% 1881 auf 19,8% 1890. Prozentual war das der größte Stimmenanteil, der sich aber nicht in der Anzahl der Reichstagssitze niederschlug, weil die Wahlkreise unverändert geblieben waren, und durch Bevölkerungszuwachs zur Eroberung eines Wahlkreises ein immer größerer Stimmenanteil erforderlich war. Parteikongresse wurden in der Schweiz und in Kopenhagen abgehalten. Auf diesen Kongressen wurden demonstrativ die Büsten von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalles einträchtig nebeneinander aufgestellt. Über Berlin und andere Großstädte und Ballungszentren im ganzen Reich wurde zeitweise der „kleine Belagerungszustand“ verhängt, was noch einmal zu verschärften Repressalien, zumeist Ausweisungen, führte. In einem Bericht zum Belagerungszustand in Berlin wird am 10. Dezember 1881 von 155 Ausweisungen gesprochen. Ein vom sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Hasenclever formulierter Protest hatte Eindruck hervorgerufen. Der preußische Innenminister Puttkamer antwortete ihm darauf. Er wies hin auf „Kraftstellen“ in den Zeitungen „Socialdemokrat“ und „Freiheit“ und fügte hinzu: „Solange die sozialdemokratische Bewegung wie bisher im Volk sich geltend macht, wird die Regierung, wird die Nation dieses Gesetz als Waffe nicht entbehren können. Könnte die Regierung darauf rechnen, daß das Volk sich von den Banden der verderblichen Führer lostrennte, dann wird sie gern auf eine Verlängerung des Belagerungszustandes nach dem 1. Oktober 1884 verzichten.“

Den sozialen Spannungen in dem Zeitraum wurde zusätzlicher Konfliktstoff geliefert. 1873 kam es zu dem „Gründerkrach“, dem eine Rezession folgte, die über ein Jahrzehnt anhielt und die Lebensbedingungen für breite Bevölkerungsschichten außergewöhnlichen Belastungen und sozialem Elend aussetzte.

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2. Sozialgesetzgebung

In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde Schrittweise ein Sozialversicherungssystem begründet. Der erste Schritt war die kaiserliche Botschaft vom

17. November 1881 dazu, die von Bismarck im Reichstag verlesen wurde, und das Programm der Arbeiterversicherungen darin angekündigt.

Begonnen wurde 1883 mit der Einführung der Krankenversicherung. Medizinische Behandlung und ein Teil des Lohnausfalles wurden darin ersetzt. 1884 wurde gegen die Folgen von Unfällen die Unfallversicherung Gesetz. Abgeschlossen wurde das Maßnahmenpaket mit der Einführung der Altersversicherung 1889. Die sozialdemokratischen Abgeordneten verweigerten die Mitarbeit und die Zustimmung. Das Ausnahmegesetz und der Belagerungszustand blieben in Kraft. Die Vertreter der Sozialdemokratie, die in Reden öffentlich auftraten, wussten um die Bespitzelung durch die Polizei oder verdeckt agierende Beobachter. So mussten sie in ihren Äußerungen zweifach Rücksicht nehmen. Zum einen, um keinen Vorwand für das Eingreifen der Polizei zu liefern, zum anderen sollte für die eigenen Anhänger nicht der Verdacht aufkommen, der Vortragende kokettiere mit dem

„Regierungssozialismus“. Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Grillenberger erklärte in einer Reichstagsdebatte zur Sozialgesetzgebung: „Wir wollen die sozialen Beglückungspläne nicht von reaktionären Händen, sondern vom demokratischen Volksstaat haben.“

Damit war das Staatsverständnis einmal mehr angesprochen, zu dem auch in der Sozialdemokratie unterschiedliche Vorstellungen herrschten. Wie sich das Verhältnis zum bestehenden Staat gestalten sollte, war oft strittig.

„Der Lassall’sche Vorschlag“ verkörpere in politischer Hinsicht nichts anderes als den„vergeblich nach Hoffähigkeit strebenden königlich preußischen Regierungssozialismus.“ So das Urteil eines parteiinternen Kritikers.

Die Gegensätze fanden immer ihre Nahrung: Klassenherrschaft und Militarismus wurden definiert als „Die Einheit ohne Freiheit,...diese Einheit im Zuchthaus, im Militärwesen, in den Kasernen,...diese Einheit in der Unfreiheit...“ Obrigkeitsstaat gegen Volksstaat, national gegen international, das waren die Gegensatzpaare.

Die soziale Frage und auch das Streben nach sozialer Besserstellung der Arbeiter war zu einer Frage politischen Prestiges geworden und damit auch zu einer Frage politischer Macht

Themen

III. Der StaatssozialismusSeiten AnfangV. Die Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890

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