I. Die Parlamentdebatte im Reichtag im September 1878 zur Gesetzesvorlage: Wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie 1. Das Verhältnis im Reichstag vertretener Parteien zur Sozialdemokratie Die Reichstagsdebatte vom 16. und 17. September 1878 befasste sich mit der Gesetzesvorlage: „ Wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Ausschnitte aus dieser Debatte sollen zeigen, wie sich Vertreter der einzelnen Parteien in dieser neuen Situation, die sich zuvor nach mehrfachem Scheitern ähnlicher Gesetzesvorlagen ergeben hatte, umgingen. Nach zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. im Mai und Juni 1878 hatte sich die Stimmung im Reich zugespitzt. Eine Stimmung, die genutzt wurde, um das gehegte Ziel, den Einfluss sozialistischer Bestrebungen zurückzudrängen oder gar gänzlich auszuschalten. Die Sitzung wurde eröffnet vom Präsidenten des Reichstages und Stellvertreter des Reichskanzlers, Graf zu Stolberg-Wernigerode. Mit dem Begriff Gottesfurcht und einem Tugendkatalog sollte der weltanschauliche Gegensatz zur aufkommenden und sich ausbreitenden Arbeiterbewegung herausgehoben werden. Der Präsident wies auf die Gefahren für den Staat hin, indem er die Theorien der Sozialdemokratie als verführerisch brandmarkte. Auf den Begriff Nation nahm er in seinen Ausführungen keinen Bezug. Er schloss mit der Aufforderung an den Reichstag, wirksame Waffen durch verschärfte gesetzliche Bestimmungen zur Verfügung zu stellen. Nach dieser Einführung erhielt der Zentrumsabgeordnete Reichensperger das Wort. Das Zentrum hatte gerade einen politischen Kampf bestanden. Es hatte sich zuvor im sogenannten „Kulturkampf“ in ähnlicher Lage befunden, wie jetzt die Sozialdemokratie. Sie waren für Bismarck in dem System, das er nach der Reichsgründung errichtet hatte, ebenfalls als „Reichsfeinde“ im Sinne des neu gegründeten deutschen Nationalstaates angesehen worden. Ein Solidarisierungseffekt zwischen der katholischen Zentrumspartei und der Sozialistischen Arbeiterpartei im Reichstag hatte sich dadurch aber nicht ergeben. Wohl wies Reichensperger auf die Gefahren hin für den Bestand des Rechtsstaates durch Beschränkung der staatsbürgerlichen Rechte, die er in der Gesetzesvorlage ausgemacht hatte. Es sprach dann von der „geheiligten Person“ des Kaisers, auf den das Attentat verübt worden war. Ihm war aber die Frage nicht wichtig, ob zwischen Attentätern und der sozialistischen Parteiorganisation ein Zusammenhag bestünde. Er schrieb sie jenen Agitationen zu: „...welche jene Partei sich schuldig gemacht hat durch die Erregung aller schlechten Leidenschaften gegen alle rechtlichen und sittlichen und religiösen Lebensordnungen und Lebensbedingungen in unserem Volk.“ Dazu vergaß er nicht den Hinweis auf eine Äußerung Bebels in einer Reichstagssitzung, in der dieser den Katholizismus als den Hauptfeind der sozialistischen Bestrebungen hingestellt hatte. Reichesnsperger hob also den weltanschaulichen Gegensatz heraus, indem er christliche Grundsätze als Maßstab für die Gesellschaft einforderte. Gelinge das nicht, so warnte er, werden die Arbeitermassen, die ihr Dasein zu Recht als Not und Bedrückung empfänden, einen Aufruhr entfachen, gegen den der Pariser Kommune- aufstand als Idylle dastünde. Dazu traf er die Feststellung, dass die christliche Wertorientierung einem Säkularisierungsprozess gewichen sei, und er meinte damit nicht nur die Sozialdemokratie, obwohl er den Vorwurf gerade gegen sie erhob, sie hätte mit ihrem ausschließlich diesseits gerichteten materialistischen Bestrebungen, dem christlichen Wertesystem den Kampf angesagt. Andererseits steht Reichensperger dem gegen die Sozialdemokratie geforderten Gesetzeskatalog verständnislos gegenüber. Der Bundesrat und Bismarck, so führte er aus, hätten die Forderungen der Sozialdemokratie als berechtigt anerkannt wie das allgemeine Wahlrecht und andere Kernforderungen. Er stellte sich einmal schützend vor die Sozialdemokratie, mit sehr deutlichen Worten wandte er sich ebenso gegen sie. Der Grund sei nicht ihre Einstellung zur Nation und zum Staat., sondern weil sie die Sinnstiftung der christlichen Religion angreife und verwerfe, dogmatisch und ethisch. Reichensperger sah in der Sozialdemokratie eine Gefahr, die er aber auf dem Wege einer Überzeugungsarbeit zu überwinden gedachte, nicht durch Gesetze und Polizeistaatmethoden, daher lehnte er die eingebrachte Gesetzesvorlage ab. Die in der Verfassung garantierten Freiheitsrechte sah er in Gefahr und wies nachdrücklich hin auf die „Karlsbader Beschlüsse“. Danach folgten die Ausführungen des Abgeordneten Helldorf- Bedra von der Deutsch Konservativen Partei. Für ihn ging die Gesetzesvorlage nicht weit genug. Er forderte eine Änderung und Verschärfung des öffentlichen Rechtes und sah in der Sozialdemokratie den Feind, dem anders die Möglichkeit gegeben werde, einen Krieg im innern gegen den Staat auszulösen. Die Sozialdemokratie bezeichnete er als „deutsche Abteilung des internationalen Kommunismus“. Der Gegensatz national und international war damit in das Zentrum der Auseinandersetzung gerückt. Er war zuvor bestimmend gewesen und blieb es nach der Verabschiedung des Sozialistengesetzes. Deutschland sei das Musterland der Sozialdemokratie stellte Helldorf- Bedra fest und wollte dafür eine spezifisch deutsche Charaktereigenschaft verantwortlich machen, der eine Neigung zum Idealismus und Humanismus eigen sei, zwei Denkkategorien, die er der Sozialdemokratie ihren Akteuren und Aktivitäten aber nicht zubilligen wollte. Das wirksamste Mittel, um sozialistische Forderungen und Bestrebungen, die vermehrt Zulauf erhielten und sich auf Klassengegensätze stützten, sah er in der Besserung der wirtschaftlichen Zustände, die über eine Handels- und Steuerpolitik erreicht werden sollten. Das allgemeine Wahlrecht unterwarf er der Kritik mit der Bemerkung, dass hier eine der wesentlichen Forderungen der Sozialdemokratie nachgegeben worden sei. Seine Abschaffung forderte er zwar nicht, aber das Urteil kleidete er in eine Kritik mit negativen Vorzeichen. Am Ende seiner Rede forderte er „besonnene Maßregeln“, appellierte an eine patriotische Solidarität und deutete an, dass die wahren Reaktionäre nicht bei den Konservativen zu suchen seien. Ferner sollten gesetzliche Maßnahmen dazu dienen, das verängstigte Volk vor einem Cäsarismus zu bewahren. Die Rede des Nationalliberalen Abgeordneten Bamberger folgte nachdem für die Sozialdemokratie August Bebel gesprochen hatte. Die Rede Bebels soll gesondert in der Gegenüberstellung mit der Rede Bismarcks, die einen Tag später am 17. September folgte, abgehandelt werden. Die Nationalliberalen hatten in den Jahren davor mehrfach Versuche vereitelt, ein Gesetz gegen sozialdemokratische oder sozialistische Bestrebungen im Reichstag zu verabschieden. Jetzt mussten die Nationalliberalen, die dem Bismarckreich wohlwollend gegenüberstanden, erneut Stellung beziehen. Bamberger sprach von einem Feind, der über die ganze Welt verbreitet sei, und kein Land könne sich frei fühlen von dieser „Krankheit“ und stellte dazu fest, Deutschland sei das bevorzugte Kampfgebiet der Sozialdemokratie. Die staatliche Entwicklung Preußens hob er beispielgebend hervor mit den Worten: „Die ganze Entwicklung des größten Deutschen Staates, die rasche Machtentfaltung desselben bei inneren großen Schwierigkeiten, seiner Boden- und Vermögensverhältnisse ist allerdings historisch dadurch geworden, daß mehr als in allen anderen Ländern der Welt der Staat an das Individuum die Ansprüche erhob, sich ihm hinzugeben und sich mit Selbstverleugnung dem Staat zu opfern. Dadurch ist Preußen groß geworden.“ Der Staatsidee falle so die Aufgabe zu, die Menschheit zu ihrem „höchsten Ziel“ zu führen. Bamberger beklagte, dass trotz der mit Preußen zusammenhängenden historischen Leistung eine „Schwäche des Nationalgefühls in ganzen Schichten der Nation“ vorhanden sei. Das erzeuge Gefahren, denen andere Staaten nicht in gleicher Weise ausgesetzt seien. Andere Länder hätten bessere Voraussetzungen zur Nationalstaatsbildung und begründete das mit der Feststellung: „...der wütigste französische oder italienische Kommunist ist noch ein Patriot im Vergleich zu denjenigen Exemplaren, die wir in Deutschland stellen können,...“ Bamberger wollte der vorangegangenen Aussage Bebels, die Ziele der Sozialdemokraten würden verkannt und entstellt, und es gäbe zudem keine Beweise für Umsturzpläne, nicht zustimmen, und berief sich auf eine Aussage Graf von Moltkes in einer Reichstagsrede, in der dieser die Behauptung aufgestellt hatte, die Sozialdemokraten würden Bebel die Gefolgschaft aufkündigen, wenn er Bereitschaft zeigte, den friedlichen und reformerischen Weg zu gehen. Mit der geplanten Gesetzgebung, so räumte Bamberger ein, handele es sich um ein Ausnahmegesetz, mit dem Grundzüge der Verfassung wie: Freizügigkeit, Presse- und Versammlungsrecht eine Änderung erführen. Weiter wollte er die Definition „Sozialismus“ in das Gesetzesvorhaben aufnehmen, weil er der Überzeugung war, es bestünde ein Unterschied in den Begriffsdefinitionen Sozialismus und Sozialdemokratie. In einem sozialistischen und einem sozialdemokratischen Programm sah er einen Gegensatz. In einem Programm, das als sozialdemokratisch gekennzeichnet sei, müsse eine Verschleierung der wirklichen politischen Zielsetzung gesehen werden. Bamberger schloss seine Ausführungen mit der Feststellung, es sei ein „Gift“ in die Nation hineingetragen worden, das nicht in den Theorien über Kapital und Privateigentum bestünde, sondern in der Spaltung der Nation in Klassen, die in „wildester Weise“ gegeneinander „aufgehetzt“ würden. Dies beträfe nicht nur die Sozialdemokratie, auch andere Teile der Nation hätten sich auf dieser Linie bewegt. Der „Virus“, so umschrieb er das Gedankengut der Sozialdemokratie, das er für einen Irrtum ansah, werde durch das vorgelegte Gesetz schwer zu bannen sein, es müsse dazu erst die Erfahrung einer Katastrophe hinzukommen. Bamberger wollte auf Einzelheiten des Gesetzes nicht näher eingehen und sich auch nicht auf eine Ablehnung festlegen. Er schlug daher die Bildung einer Kommission aus 21 Mitgliedern vor, der die Entscheidungsfindung überlassen werden sollte. Am 17. September 1878 wurden die Beratungen des Reichstages zum Sozialistengesetz, die am Tage zuvor begonnen hatten, fortgesetzt mit dem Abgeordneten der „Deutschen Fortschrittspartei“, Albert Hänel. Hänel stellte die Reden von Helldorfs und August Bebels, dem führenden Vertreter der Sozialdemokratie in einen Gegensatz. Der eine als absoluter Befürworter, der andere als absoluter Gegner. Die übrigen hätten sich nicht eindeutig festgelegt, so Hänel in einer kritischen Anmerkung. Er knüpfte daran die Frage, welche Rechtsgrundlage zu suchen sei gegen die „agitatorische Bewegung“ , die auch er in besonderer Weise bei den Sozialdemokarten zu erkennen glaubte. Er stellte das „gemeine Recht“ in den Gegensatz zum Gesetzentwurf und warf nationalliberalen Rednern vor, sie hätten sich mit einer Kehrtwendung in Richtung auf den Gesetzentwurf gegen die Sozialdemokratie zu bewegt. Er bezog sich damit auf die Reichstagsdebatte zu einer ähnlichen Gesetzesvorlage, die kurz vor den Attentaten auf den Kaiser im Frühjahr 1878 im Reichstag stattgefunden hatte. Vorwurfsvoll stellte er auch die Frage nach dem versöhnlichen und ausgleichenden Charakter des Gesetzes. Es richte sich gegen das sozialdemokratische Programm unabhängig davon, ob die Formen seiner Verbreitung sich im gesetzlich erlaubten Rahmen bewege oder nicht. Wörtlich führte er aus: „ Das Glaubensbekenntnis und seine Verbreitung als solche, sie werden getroffen. Irgendwelcher weitere rechtliche allgemein erkennbare Tatbestand, der das Erlaubte vom Unerlaubten, das Gerechtfertigte vom Verwerflichen unterscheidet, ist für die Anwendbarkeit des Gesetzes nicht vorausgesetzt.“ Mit dieser Feststellung erklärte Hänel zugleich, das Gesetz sei für die Fortschrittspartei unannehmbar. Er widersprach von Helldorf, der behauptet hatte, die Sozialdemokraten würden durch das Gesetz nicht ihrer Staatsbürgerlichen Rechte beraubt. Er sah weiterreichende Folgen, die nicht nur auf die Sozialdemokratie zuträfen, sondern ausgedehnt werden könnten auf andere politische Bestrebungen. Die gesetzlich garantierten Freiheitsrechte könnten auf einer breiteren Grundlage untergraben werden. Er wies hin auf die Verfolgungsmaßnahmen gegen die Fortschrittspartei in der Vergangenheit. Er befürchtete einen Rückfall in absolutistische Traditionen, wenn politische und religiöse Glaubensfreiheit gewährt werde mit der Einschränkung, nicht dafür werben zu dürfen. Kritik übte er an Bamberger mit dem Vorwurf, er habe liberale Grundsätze aufgegeben. Selbst urteilte er: „...dieser Gesetzentwurf ist einer der gröbsten Fehler, die jemals gemacht wurden.“ Das Reichstagsprotokoll verzeichnet: (Sehr gut links und im Zentrum) Scharfe Angriffe richtete er auch gegen den „arbeitslosen Reichtum“ der Gründerzeit unmittelbar nach 1871, gepaart mit Habgier und Eigennutz, „...als wir den Reichtum ganz unverdient sich häufen sahen...“ und weiter: „...Meine innersten sittlichen Gefühle empören sich dagegen, daß wir einseitig gegen die Sozialdemokratie vorgehen, wo wir uns ehrlich sagen müssen, wir sind alle Sünder.“ Auf den Boden des gemeinen Rechts wollte er verharren auch gegenüber der „Rohheit und Verwilderung sozialdemokratischer Agitationen“. Hänel vertrat seine ethischen Grundsätze losgelöst von religiösen oder weltanschaulichen Bindungen. Seine Ausführungen waren nicht auf die mögliche Gefährdung von Staat und Nation gerichtet, sondern auf die konsequente Einhaltung demokratischer Rechte und Freiheiten. |