Heinz Drews Hamburg, den 6. 8. 1985 Sierichstraße 106 2000 Hamburg 60 An den Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland Herrn Richard von Weizsäcker Bundespräsidialamt 5300 Bonn Sehr verehrter Herr Bundespräsident! Vor einigen Tagen habe ich den Text Ihrer Rede gelesen, die Sie zum vierzigsten Jahrestag der Kapitulation am 8. Mai 1985 gehalten haben. Diese Rede hat im In- und Ausland große Beachtung und Zustimmung gefunden. Ich bitte Sie, mir eine kurze Stellungnahme zu erlauben, denn ich gehöre zu den wenigen Menschen und auch Bürgern dieses Landes, welche Ihren Ausführungen nicht uneingeschränkt ihre Zustimmung geben können. Es hat nach Veröffentlichung Ihrer Rede in diesem Lande einige kritische Stimmen gegeben. Diese Stimmen wurden von den Medien sofort in ein Klima der Unsachlichkeit versetzt und mit emotionsgeladenen, unterschwelligen Verdächtigungen überhäuft, in einer Weise, die sich nicht mit den, fast täglich von Publizisten und Politikern, großmütig verkündeten Prinzipien dieser Republik verträgt. Ihre Rede ist ein opportunistischer Zuschnitt auf die bestehenden machtpolitischen Verhältnisse. Es ist das, was seit mehr als einem Jahrzehnt als „Realpolitik“ bezeichnet wird. „Realpolitik“ hat das machtpolitische Prinzip zum Inhalt, in welchem die Interessen der Macht den Interessen des Rechts und der Gerechtigkeit untergeordnet werden. Die deutsche Politik der Vergangenheit hat dem machtpolitischen Prinzip aus der Sicht des Herrschenden und des Herrschsüchtigen gehuldigt, heute huldigt sie ihm aus der Sicht des Unterworfenen und des kriecherisch Unterwürfigen – immerhin, das Prinzip bleibt so gewahrt. Sie haben in Ihrer Rede die Greueltaten nationalsozialistischer Vernichtungskommandos erwähnt, Sie haben Lidici erwähnt. Unerwähnt gelassen haben Sie My Lai oder Afghanistan, zwei symbolträchtige Beispiele von Machtpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. In zwei Fernsehberichten hat es der deutsche Fernsehmoderator Peter Krebs dargestellt: Die Opfer des amerikanischen Gaskrieges in Vietnam: Mißgestaltete Kinder, die als Krüppel zur Welt kommen. In großen Glasbehältern werden in Saigon totgeborenen Säuglinge mit den grässlichsten Verkrüppelungen gezeigt. Ebenso die Berichte in Zusammenhang mit der sowjetischen Besetzung Afghanistans, wo sich als Folge dieser Besetzung viele verstümmelte Kinder durch verschlammten afghanischen Flüchtlingslager in Pakistan bewegen. Solche Beispiele, als Folge von Machtpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, könnten Buchweise fortgesetzt werden. Wer solche Ereignisse einem ethischen Minimalkonsensus zuordnet, der hat sich den Prinzipien machtpolitischer Willkür verschrieben. Die oben erwähnten Beispiele werden von dem Wohlstandsbürger der Gegenwart ungerührt betrachtet; er geht daran genauso achtlos vorbei wie im Dritten Reich am Judenstern. Er war auch damals nicht bereit, nach Jahren des Hungers in der Demokratie, im Kampf für ethische Prinzipien neue Leiden auf sich zu nehmen. Die entscheidend verantwortlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges haben in den letzten vierzig Jahren ihre Unfähigkeit unter Beweis gestellt, zum machtpolitischen Prinzip eine Alternative aufzuzeigen, in welcher das Zusammenleben der Völker auf andere und bessere Grundlagen gestellt werden könnte. Dafür kann man nicht die Deutschen, dafür kann man nicht einmal die Nazis verantwortlich machen. Es blieb Hitlers ehemaligen Gegnern und Nachfolgern vorbehalten, noch grausamere und umfassendere Vernichtungswaffen herzustellen und bereitzustellen, und die damit verbundene latente Bedrohung zur Grundlage der Politik zu machen. Ganz gelassen sprechen Wissenschaftler und Politiker in diesem Zusammenhang von „Overkill“. Sollte es je zu einem Einsatz solcher Waffen kommen, dann steht die Vernichtung der Menschheit bevor. Diskriminierung eines Volkes oder eines Individuums wird es dann nicht mehr geben, von dem Akt der Vernichtung werden alle gleichermaßen betroffen sein. Etwaige Überlebende könnten sich dann solchermaßen auch auf einen ethischen Minimalkonsensus berufen, falls es noch welche geben wird, die sich berufen könnten. Vergangenheitsbewältigung, die eine Bewältigung der Gegenwart und Zukunft ausschließt, ist keine Vergangenheitsbewältigung. Eine solche Vergangenheitsbewältigung wird zwangsläufig herabgewürdigt zu einem Mittel psychologischer Kriegsführung und stellt keine Würdigung und Ehrung der Generation der Leiden dar. Unerwähnt gelassen haben Sie auch das Werk der Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich, begonnen durch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, nachdem Frankreich und Deutschland sich Jahrhunderte lang blutige Kriege geliefert hatten im Machtkampf um Europa. Ebenso unerwähnt blieb der Besuch des Präsidenten der USA, Ronals Reagan, im Mai dieses Jahres in der Bundesrepublik. Er wollte durch eine Geste der Versöhnung die Beziehungen zwischen den USA und dem deutschen Volk auf eine andere Grundlage stellen. In seiner Rede in Hambach hat der amerikanische Präsident versucht, neue Akzente zu setzen in der Einstellung der amerikanischen Politik zu Europa. Diese Versuche sind besonders in den USA auf unfruchtbaren Boden gefallen. Allzu deutlich demonstrierten die tragenden Stützen der US- amerikanischen Politik und Gesellschaft ihre Entschlossenheit, Deutschland weiterhin als eine besiegte und moralisch deklassierte Nation zu betrachten. Wer geistliches christliches Verständnis besitzt konnte die Reden des amerikanischen Präsidenten in Bergen- Belsen und Bitburg nicht mißverstehen. Charles de Gaule und Ronals Reagan haben jeweils zu ihrer Zeit für ihre Bestrebungen nach Versöhnung emotionsgeladene Kritik erfahren, die hinging bis zu übelsten Beschimpfungen, den Boden sachlicher Argumentation weit hinter sich lassend. Auch die deutsche Nation hat einen physischen und psychischen Leidensweg hinter sich, und es kann nicht gut sein, sich hierüber in differenzierenden Betrachtungen zu ergehen. Zwölf Millionen Deutsche wurden auf grausame Weise vertrieben, seit mehr als zwanzig Jahren werden Deutsche durch Mauern, Spezialzäune und Minenfelder getrennt. Aber das alles genügt vielen noch nicht, sie möchten die Prinzipien von Schuld und Vergeltung hineintragen in zukünftige Generationen, und das Rad des Unheils, das schon seit Jahrtausenden durch die Geschichte rollt, weiter in Bewegung halten. Auch der Christ glaubt an ein göttliches Handeln in der Geschichte, und das JESUS CHRISTUS die vollkommene Erfüllung aller heilsgeschichtlichen Erwartung ist. SEINE Prinzipien sind nicht Schuld und Vergeltung, sondern Vergebung und Versöhnung. Für so manche geschichtsträchtige Nation wäre es vonnöten, einmal die eigenen Balken in ihrem geschichtlichen Auge näher zu betrachten. Die Umerziehung der deutschen Nation(Reeducation of Germany) hat Zerstörung nationaler Identität bewirkt und eine Zersetzung des christlichen Wertesystems. Ich habe mir erlaubt, dieser Stellungnahme die Kopie eines Schreibens beizufügen, das ich am 12. Januar dieses Jahres an die Israelische Botschaft gerichtet habe. Für eine Kenntnisnahme meiner Anliegen wäre ich sehr dankbar. Trotz meiner kritischen Stellungnahme möchte ich abschließend deutlich machen, daß meiner Sympathie und meinem Interesse als Bürger dieses Landes für Ihr politisches Wirken, Herr Bundespräsident, mit Sicherheit kein Abbruch geschehen ist. Mit vorzüglicher Hochachtung gez. Heinz Drews
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